Terrains vagues als narrativ-ästhetischer Bezugspunkt in Pasolinis Filmwerk

In meinem Vortrag soll es um das filmische Werk Pasolinis – exemplarisch die Frühwerke ACCATTONE und MAMMA ROMA – und die Rolle der Terrains Vagues (Wastelands, Übergangszonen zwischen Stadtrand und Land) gehen. Die frühen Filme Pasolinis spielen in den Randzonen Roms, kurz vor dem Übergang zwischen der großen Stadt und dem Land, zumeist vor dem Panorama der Neubauten faschistischer oder postfaschistischer Wohnungsbauprojekte. Ein signifikanter Teil des Geschehens spielt sich dabei in den verwahrlosten Zonen, den Terrains Vagues, die direkt an die letzten Mietskasernen angrenzen, ab.

Meine allgemeine Ausgangsthese ist, dass diese Räume in ihrer Funktion als Lücke und in der Unbestimmtheit städtischer oder zivilisatorischer Gliederung, die sich in ihnen ausspricht, eine Projektionsfläche für einen bestimmten Teil des Geschehens im Film bietet: sie sind die Orte, an dem die peripheren Existenzen miteinander ihr Spiel der geheimen Verführungen und Versprechen, der Verabredungen, aber auch der Kämpfe spielen. Sie sind der Ort des Geheimnisses und haben etwas Archaisches – wobei beides durch die Gegenwart der Reste römischer Baukunst in diesem Gebiet untermauert wird. Es scheint so, als würden die Terrains Vagues eine eigene narrative Rolle annehmen, welche über diejenige der Sozial- und Konsumkritik Pasolinis im Bereich des Inneren der urbanen Randzonen hinausgeht: In beiden Filmen verweist Pasolini auf das Absterben der Heterogenität und des Sich-Entziehenden indem er eine Geschichte erzählt die mythische Züge trägt. Die beiden Protagonisten in ACCATTONE und MAMMA ROMA können insofern als moderne Heiligenfigurationen verstanden werden,  als dass sie durch ihren stellvertretenden Tod – stellvertretend für alle die, die unter den Lügen der bürgerlichen Konsumwelt leben müssen –, also durch diese Opferfunktion die Frage nach der Möglichkeit anderer Alternativen als der zwischen Elend und Beherrschung (durch die Konsumkultur) stellen. Den Terrains vagues – und das ist mein Hauptpunkt – kommen dabei eine bedeutende Rolle zu: Ihre hybride Gestalt  spiegelt auf besondere Art das Spannungsgefüge zwischen der Unfreiheit der Armut und jener der Gleichförmigkeit der bürgerlichen Welt, dem die Protagonisten ausgesetzt sind und dies macht diese Orte zu Reflexionsräumen.


Isabelle Chaplot studierte Kulturwissenschaftliche Medienforschung und European Film and Media Studies an der Bauhaus Universität Weimar, der Université Lumière Lyon II sowie der Universiteit Utrecht.

Nach beruflichen Stationen in der Filmbranche und im Verlagswesen ist sie seit September 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Europäische Medienwissenschaft der Hochschule und Europa-Universität Flensburg. Sie forscht zurzeit an Ihrem Promotionsvorhaben mit dem Titel: „Der Heilige Mensch: Aspekte von kinematographischer Erinnerung im europäischen Nachkriegskino“.

Forschungsinteressen: Medienkultur, Medientheorie, Filmtheorie (insbesondere: italienischer Neorealismus, europäisches Nachkriegskino, Early Cinema, Japanisches Kino), Kulturwissenschaftlich orientierte Film- und Medienwissenschaft