Geschichte(n) von der Straßenecke:  die Dokumentarfilmreihe Berlin – Ecke Bundesplatz

Das dokumentarische Langzeitprojekt Berlin Ecke-Bundesplatz von Hans-Georg Ulrich und Detlef Gumm widmet sich von 1986 bis 2012 dem Bundesplatz im Berliner Stadtteil Wilmersdorff sowie dessen Anwohnern. In 26 Jahren Projektzeit entsteht ein bemerkenswerter Umfang an filmischem Material: 62 Filme – in Form halbstündiger Episoden bzw. Langfilmen  – mit einem Sendevolumen von rund 55 Stunden, die von den Lebenswegen von rund 30 Protagonisten erzählen und Berliner Stadtgeschichte schreiben, indem sie sich um den Bundesplatz als «lieu de mémoire» im Sinne Pierre Noras figurieren.

Mit einer «Geschichtsschreibung von unten» eröffnen Dokumentarfilmprojekte wie Berlin – Ecke Bundesplatz einen alternativen Zugang zu Geschichte: einschneidende Ereignisse wie den Mauerfall erzählen die Projekte nicht über die bekannten, ins kollektive Gedächtnis eingegangenen Bilder, sondern über Alltagsbilder vom gesellschaftlichen Rand, aus der großstädtischen Peripherie. Sie emanzipieren sich von totalen Geschichtsprozessen, transformieren einschneidende gesellschaftliche Ereignisse in lokale, partikulare Geschichten.

Die Möglichkeit, Geschichtsprozesse sichtbar zu machen, verdankt das Projekt seiner Standortgebundenheit und seiner Form der Dauer – seiner Langzeitigkeit –, die Berlin – Ecke Bundesplatz für die Historiographie privilegieren. Das explizit filmische Potenzial der Geschichtsschreibung – und ein dokumentarischer Wert der Filme– liegt dann gerade darin, im Bewegtbild und mittels Montage einen Zeitfluss in sich verändernden Gesichtern und Häuserfassaden ansichtig werden zu lassen.

Der Vortrag stellt am Beispiel Berlin-Ecke Bundesplatz historiographische Potenziale von Langzeitdokumentarfilmprojekten vor und geht auf die formalästhetischen Besonderheiten sowie auf Fragen ein, die sich aus der besonderen Rezeptionssituation solcher Projekte ergeben.


Marian Petraitis, M.A. seit 2013 wissenschaftlicher Assistent, Doktorand, Lehrbeauftragter am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Dissertationsprojekt zu historiographischen Praktiken des Alltags im gegenwärtigen Dokumentarfilm. Mitherausgeber des CINEMA-Jahrbuches. Zuletzt erschienen: «Am Rande der Geschichte, wie man so sagt – Fragmente aus dem wiedervereinigten Deutschland in den Langzeitdokumentarfilmen Neues in Wittstock, Katrins Hütte und Stau – Jetzt geht’s los» (2016).